Mir ist es wichtig, dass unser Volk nicht primär als Opfer des Holocaust wahrgenommen wird, sondern dass unsere Identität anerkannt, verstanden und respektiert wird.
Deshalb werde ich in diesem Unterforum wohl noch öfters erklären, was das Judentum ausmacht und wie es sich vom Christentum unterscheidet. Denn hier herrscht viel Unwissenheit: Man liebt oder hasst uns, weiß aber nichts über uns.
Diesmal geht es um das Thema „Glaube“.
„Glaube ist etwas für Christen. Wir Juden glauben nicht“, sagte mir vor vielen Jahren einmal ein weiser Rabbiner.
Und das stimmt: Für Christen ist Glaube enorm wichtig, er verändert sozusagen alles – doch so wie wir es sehen, ist Glaube etwas Vergängliches: Heute glaube ich etwas, morgen habe ich etwas Neues gelernt und glaube etwas anderes. Ich habe keine Kontrolle über meinen Glauben, denn jederzeit kann etwas passieren, das mich eines Besseren belehrt.
Es ist bezeichnend, dass der hebräische Begriff für „Gläubiger“ (im religiösen Sinne) nicht „savur“ (סָבוּר, wörtlich übersetzt „glauben“), sondern „dati“ lautet, was auf das Verb „wissen“ (לָדַעַת, lada'at) zurückgeht.
Wir Juden „glauben“ nicht, sondern wir „wissen“.
Deshalb haben wir eine völlig andere Haltung gegenüber „Religion“ und unseren heiligen Schriften. Wir „glauben“ nicht an die Tora, sondern hinterfragen sie. Wir versuchen, sie zu verstehen und (täglich, wenn wir sehr „dati“ sind) dazuzulernen. Jede neue Erkenntnis ist gut, jede neue Interpretation willkommen, solange sie logischen Argumenten standhält und dem Originaltext nicht widerspricht.
Als Beispiel möchte ich folgende fiktive Debatte mit einem Atheisten anführen:
„Warum glaubst du an Gott? Das ist doch völliger Unsinn. Du kannst mir nicht beweisen, dass Gott existiert. Ich glaube nur, was bewiesen werden kann“, sagt der Atheist.
Der typische Christ wird letztlich mit seinem Glauben arguentieren, vielleicht mit der Bibel.
Eine typische jüdische Antwort wäre jedoch etwa so:
Bevor wir über solche Dinge reden, sollten wir uns darüber einig werden, was Gott ist. Ich glaube auch nicht an einen alten Mann mit weißem Haar und Bart, der hoch oben in den Wolken sitzt.
ABER:
Kannst du mir sagen, was vor dem Universum existierte? Woher kam es?
Glaubst du, dass etwas aus dem Nichts entstehen und dann wieder im Nichts verschwinden kann, und worauf basiert dein Glaube? Kannst du beweisen, dass so etwas physikalisch möglich ist?
Glaubst du, dass du deine Gedanken, Handlungen und Träume kontrollierst und immer weißt, welche Auswirkungen sie haben werden? Hast du Kontrolle darüber? Wenn nicht, wer dann?
Kannst du erklären, was Ewigkeit ist? Wenn man von 1, 2, 3, 4 usw. zählt, wo endet das dann?
Weißt du, was Unendlichkeit ist, und glaubst du, dass sie existiert? Wenn nicht, was passiert, „wenn die Zeit abläuft“? Kannst du beweisen, dass die Zeit irgendwann abläuft?
Das sind die Fragen, und sie alle zielen darauf ab, was wir unter „Gott“ verstehen.
Und da haben wir es: Der Atheist wird letztendlich zugeben müssen, dass er nicht beweisen kann, dass Gott nicht existiert. Denn er weiß ganz genau, dass all dies existiert, auch wenn er es nicht verstehen, sehen oder beweisen kann.
Und das ist „Gott“: Er (es) steht über allem, was wir verstehen können.
Die Thora verbietet uns Juden, uns ein Bild von Gott zu machen. Warum? Weil es unmöglich ist und jedes Bild uns letztlich in die Irre führen würde.
Wir wissen also, dass Gott existiert, was auch immer wir glauben, ist nicht wichtig.